Blutgefäße: Pioniere der Knochenbildung im Schädel
Neue Langzeit-Mikroskopie-Methode zeigt Unterschiede zu Röhrenknochen
Lebender Knochen fasziniert durch seine besondere Fähigkeit, sich mechanischen Belastungen anzupassen und ohne Narbenbildung zu regenerieren. Bei der Frakturheilung arbeiten Blutgefäße und Knochenzellen eng zusammen, wobei das zunächst aus Knorpel gebildete Wundgewebe allmählich durch einwachsende Blutgefäße und neues Knochengewebe ersetzt wird. Die Knochenvorläuferzellen folgen dabei strikt dem Verlauf der neu gebildeten Gefäße – eine Beobachtung, die als angiogene-osteogene Kopplung bekannt ist. Ein gebrochenes Bein heilt auf diese Weise. Was aber, wenn der Schädelknochen verletzt wird? Einem Forscherteam des Max-Planck-Instituts für molekulare Biomedizin in Münster ist es erstmals gelungen, mit einem hochspezialisierten Lasermikroskop die Heilung von Schädelknochen und das Wachstum neuer Blutgefäße ohne Knochenvorläuferzellen live zu beobachten. Die Gefäße wachsen zunächst solitär ohne Knochenvorläuferzellen, um das verletzte Knochengewebe auf die spätere Verknöcherung vorzubereiten. Damit unterscheidet sich diese Art der Knochenheilung grundlegend von den bisher bekannten Vorgängen in Röhrenknochen.
Blutgefäße sind die Lebensadern, die den Körper mit lebenswichtigem Sauerstoff und Nährstoffen versorgen. Im Skelettsystem besitzen Blutgefäße eine spezialisierte Morphologie und durchziehen den Knochen mit einem dichten Netzwerk von Gefäßen. Sie regulieren über freigesetzte Signalmoleküle die Bildung von Knochenvorläuferzellen und damit die Bildung, den Erhalt und die Regeneration von Knochengewebe.
Die Heilung von Röhrenknochen oder Langknochen in Armen und Beinen ist ein intensiv erforschtes Gebiet der Orthopädie und Unfallchirurgie. Flachknochen, die sich beispielsweise im Schädel befinden, unterscheiden sich von Röhrenknochen bereits dadurch, dass sie kein Gewicht tragen. Weitere Unterschiede finden sich während des Wachstums und der Entwicklung dieser Knochentypen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts gingen nun der Frage nach, ob die Erkenntnisse über die Knochenheilung von Röhrenknochen auf Flachknochen übertragbar sind oder ob es hier Unterschiede gibt.
Um das Wachstum neuer Blutgefäße und die Heilung des Knochengewebes im Schädel live beobachten zu können, hat ein Max-Planck-Forscherteam eine Mikroskopie-Methode entwickelt, mit der sie Blutgefäßneubildung und das Einwachsen von neuem Knochen über einen Monat lang live verfolgen können. Mit dem Multiphotonenmikroskop, das auf intravitale Untersuchungen spezialisiert ist, konnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in tiefe Gewebeschichten vordringen und dort Gefäß- und Knochenzellen, sowie Faserstrukturen des Knochenkollagens mit hoher Auflösung sichtbar machen.
Gabriele Bixel, Erstautorin und zusammen mit Ralf Adams Projektleiterin der Studie, erklärt: „Mit unserem neuen experimentellen Ansatz ist es erstmals gelungen, in vivo Aufnahmen über mehrere Wochen an ein und derselben Stelle aufzunehmen und so die Heilung einer Knochenverletzung vom Beginn bis zum Ende des Heilungsprozesses zu verfolgen.“
Dabei fanden die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler heraus: „Die Gefäße wuchsen bei der Heilung einer Läsion im Schädelknochen nicht wie in Röhrenknochen in enger Nachbarschaft zu den Knochenvorläuferzellen ein. Zu unserer Überraschung wuchsen die regenerierenden Gefäße zunächst alleine, sozusagen als Pioniere, in die Knochenwunde ein und bauten dort eine primitive Blutversorgung auf. Erst wenn die Versorgung mit Sauerstoff und Nährstoffen gewährleistet war, wanderten Knochenzellen im mehrschichtigen Zellverband in die verletzte Knochenstelle ein und begannen, die Läsion allmählich zu verknöchern“, erklärt Bixel.
Diese Art der Heilung des Schädelknochens unterscheidet sich also grundlegend von der Heilung eines Bruchs des Oberschenkelknochens. „Ein gebrochener Oberschenkelknochen heilt, indem sich zunächst ein weicher Kallus, eine Knorpelmanschette, um die Bruchstelle bildet. Dieser Kallus aus Knorpelzellen bildet eine vorübergehende stabilisierende Struktur um die Knochenfraktur“, erläutert Bixel. „Im Verlauf der Knochenheilung wird dieser Weichkallus durch einwachsende Gefäße mit parallel einwandernden Knochenvorläuferzellen nach und nach beidseitig, von den äußeren Enden ausgehend, in Knochengewebe umgewandelt. Dabei folgen die Knochenvorläuferzellen in unmittelbarer Nähe dem Verlauf der neu gebildeten Gefäße“, so Bixel.
In der aktuellen Studie wurden kleine Verletzungen des Schädelknochens untersucht. „Wir können hieraus noch nicht schließen, welche Rolle regenerierende Blutgefäße bei der Heilung großer Knochendefekte oder tiefer Frakturen des Schädelknochens, wie z. B. einer Schädelbasisfraktur, spielen“, sagt Bixel. „Eine weitere spannende Frage für uns ist, wie Gefäß- und Knochenzellen miteinander kommunizieren und gemeinsam in den verletzten Knochen einwachsen, und wie und warum diese angiogene-osteogene Kopplung bei der Heilung kleiner Verletzungen des Schädelknochens aufgehoben wird“, so Bixel.
Die Erforschung der Blutgefäße und ihrer zentralen Rolle bei der Knochenheilung ist entscheidend, um langfristig effektive Strategien zur Verbesserung der Knochenregeneration zu entwickeln. Dies stellt nach wie vor eine große Herausforderung für die orthopädische Chirurgie dar.
Die interdisziplinäre Studie in Nature Communications entstand in Zusammenarbeit mit Melanie Timmen und Richard Stange von der Abteilung für Regenerative Muskuloskelettale Medizin am Institut für Muskuloskelettale Medizin der Universität Münster.